Zuchtwert(über)schätzung- Ein Experte packt aus!

Ausschnitt Titelseite MILCHRIND
Ausschnitt Titelseite MILCHRIND

Es ist kein Geheimnis dass ich mich an dieser Stelle immer wieder kritisch zur Zuchtwertschätzung und speziell zur genomischen Zuchtwertschätzung geäußert habe. Kritisch dahingehend, dass ich den massiven Einsatz und die hemmungslose Bewerbung unsicher geprüfter bzw. genomischer Bullen für überzogen halte. Das Problem besteht darin,  dass die Besamungsstationen nicht zwischen sicher oder unsicher geprüften Bullen unterscheiden, sondern für sie lediglich die Höhe der ZW zum Zeitpunkt der Veröffentlichung qualitätsrelevant ist. Frei nach dem Motto: Der höchste Bulle ist der Beste! Die Krux ist aber, dass in den meisten Fällen die jungen unsicher geprüften Bullen die höchsten Zuchtwerte vorweisen können und die guten sicheren Bullen, in Folge der Abschreibung, dem Feld hinterherlaufen. Milchviehhalter die sich wenig mit der Zucht beschäftigen, setzen aber logischerweise auf die höchsten Bullen und gehen damit voll ins Risiko. Enttäuschungen sind vorprogrammiert. Noch einmal,  ich halte die Zuchtwertschätzung für ein gutes Hilfsmittel, allerdings erst im  Sicherheitsbereich über 90%. In meinem Bericht vom 12. September "Letzte Wahrheit"  habe ich dies sehr genau beschrieben. (Bitte unbedingt Lesen!)

 

Nun zum eigentlichen Thema dieses Berichts. Dr. Stefan Rensing ist beim VIT einer der führenden Köpfe der deutschen Holstein-Zuchtwertschätzung. In der MILCHRIND Ausgabe 3/2022 versuchte er die Frage zu beantworten, ob genomische oder töchtergeprüfte Bullen besser seien. Am Ende des Berichts kam er zu folgender Feststellung, die ich sehr bemerkenswert finde und deshalb vollständig zitiere:

 

Dr. Stefan Rensing in MILCHRIND Ausgabe 3/2022 Seite 6

>>Töchtergeprüften Bullen wird häufig eine sehr viel höhere Konstanz der Zuchtwerte unterstellt, als dies wirklich gegeben ist. Die Topbullen Töchtergeprüft stellen im Wesentlichen die jüngsten beiden Jahrgänge. Diese haben meist nur Töchter in der ersten Laktation, dafür aber viele. Die Zuchtwerte beziehen sich aber auf drei Laktationen und somit fehlen bei vielen jungen töchtergeprüften Bullen noch für 2/3 des Merkmals "Gesamtleistung" Töchterinformationen. Auch die Nutzungsdauer kann erst sicher abgeschätzt werden, wenn die Abgangsinformationen aus der 2. Laktation vorliegen, denn bei Erstlingskühen spielen teilweise andere Abgangsgründe eine Rolle als bei erwachsenen Kühen. Ein weiterer psychologischer Aspekt ist, dass töchtergeprüfte Bullen schnell ein Image bekommen , das sich kaum noch ändert, auch wenn die tatsächliche weitere (eventuell negative) ZW-Entwicklung etwas anderes sagt. Um nur noch sehr begrenzt Überraschungen bei töchtergeprüften Bullen zu erleben, dürfte man diese erst selektiere, wenn genügend Töchter mindestens die zweite Laktation abgeschlossen haben. Aber dann ist der Abstand zu den zeitgleich verfügbaren hohen genomischen Bullen so groß, dass man bereit sein muss, sich mit weniger Zuchtfortschritt zufriedenzugeben. Gleich aus welchem Blickwinkel man es betrachtet, die Antwort auf die Frage: lieber genomische oder doch töchtergeprüfte Bullen?" lautet für die allermeisten Betriebe: Mit genomischen Bullen fahre ich besser."<<

 

Ich weiß nicht wie ihr das seht, aber eigentlich ist dem nichts mehr hinzuzufügen. Hier schreibt ein Akademiker der am Schaltpult der deutschen Holstein-Zuchtwertschätzung sitzt, sich die Welt so zurecht, wie er sie sich seit Jahren schön säuberlich zurechtgelegt hat. 

 

Seine Kernaussage ist bemerkenswert :  Weil töchtergeprüfte Bullen ihre wahre Sicherheit erst nach dem Abschluss der 2. Laktation erreichen und sie davor meist immer noch überschätzt sind, sind genomische Bullen ohne Töchterinformationen diesen vorzuziehen. Ich frage mich, haben wir Milchviehhalter wirklich so einen schlechten Ruf, dass sich ein so heller Kopf wie Herr Rensing traut, so einen Unfug in einer renommierten Zeitschrift zu schreiben? Wahrscheinlich ungewollt hat er damit das Kernproblem seiner Zuchtwertschätzung wie einen roten Teppich vor uns allen ausgerollt. Es besagt im Prinzip nichts anders, als das was ich im Bericht "Letzte Wahrheit" beschrieben habe.  Man muss warten bis ein Bulle Töchter in der 3. Laktation hat, um seinen Wert wirklich sicher einschätzen zu können. 

 

Vollkommen enthemmt rät Rensing den Bauern dennoch dazu genomische Vererber  den unsicher geprüften töchtergeprüften Bullen vorzuziehen, wohlwissend dass diese eine noch viel niedrigere Sicherheiten haben. Vielleicht mag dies aus Sicht eines Populationsgenetikers irgendwie fachlich  zu erklären sein, aus Sicht eines Milcherzeugers, der  sich Ausfälle  finanziell nicht leisten kann, könnte man ihm fast Böswilligkeit unterstellen. 

 

Dass Besamungsstationen und Zuchtverbände diesen Wahnsinn seit Jahrzehnten stillschweigend mitspielen hängt damit zusammen, dass sich junge genomische Vererber  und Jungstiere mit ersten hohen töchterbasierten Zuchtwerten wunderbar vermarkten lassen. Die Rechnung für das Sperma bezahlt der Bauer sofort, die Rechnung für die Fehlinformation erst Jahre später wenn er sich an den Betrug vor lauter Arbeit nicht mehr erinnern kann. 

 

Ob gewollt oder ungewollt, herzlichen Dank Herr Dr. Rensing für diese ehrlichen und aufschlussreichen Worte!